Stöhr, Richard
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Biografie
Richard Stöhr
geb. 11.06.1874 in Wien, gest. 11.12.1967 in Montpelier, VT (USA)
Alternative Namen: geb. Richard Stern, auch Stoehr
Richard Stöhr wurde am 11. Juni 1874 als Richard Stern, Sohn von Mathilde (geb. Porges) und Dr. Samuel Stern, einem Mediziner und Professor an der UniversitĂ€t Wien, in Wien geboren. Er trat 1897 aus der jĂŒdischen Glaubensgemeinschaft aus und konvertierte zur katholischen Religion, 1898 Ă€nderte er seinen Nachnamen in Stöhr.
Von 1893 bis 1898 studierte er, dem Wunsch seines Vaters folgend, Medizin an der UniversitĂ€t Wien. Nach seiner Promotion begann Stöhr eine musikalische Ausbildung an dem von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien gefĂŒhrten Conservatorium fĂŒr Musik und darstellende Kunst, der VorgĂ€ngerinstitution der mdw. Von 1898/99 bis 1899/00 studierte er Orgel bei Josef Vockner, von 1900/01 bis 1901/02 Klavier bei Wilhelm Schenner und von 1902/03 bis 1903/04 Komposition bei Robert Fuchs. SĂ€mtliche Studien schloss er mit vorzĂŒglichem Erfolg ab, wofĂŒr er jeweils eine Silberne Gesellschaftsmedaille erhielt.
1904 heiratete Stöhr die Pianistin Lusika (Elise) Pawulan-Pahlen (geb. 1878), im Jahr darauf kam Sohn Peter, 1907 Sohn Paul zur Welt. Wenig spĂ€ter trennte sich das Paar, die Scheidung erfolgte erst 1923, dem Jahr, in dem er Maria âMitziâ Eitler (1890-1986) heiratete. Das erste Kind des Paares, Richard, war bereits 1922 geboren worden, es folgten 1923 Sohn Heinrich, der im Alter von nur zweieinhalb Jahren ertrank, und 1927 Tochter Hedwig âHediâ.
Schon wĂ€hrend seiner Studienzeit war Stöhr von 1900 bis 1904 als Korrepetitor am Konservatorium angestellt. 1904/05 begann er seine Laufbahn als PĂ€dagoge mit der Erteilung des Unterrichts in Praktischer Musiklehre fĂŒr InstrumentalschĂŒlerinnen, im nĂ€chsten Studienjahr ĂŒbernahm er eine Klasse der Chorschule und ab 1907/08 zusĂ€tzlich das Fach Musikalische Fortbildung an den Lehrerbildungskursen. In den folgenden Jahren wurde seine LehrtĂ€tigkeit immer umfangreicher, besonders hervorzuheben ist die ĂŒber einen langen Zeitraum als Haupt- und Nebenfach von ihm unterrichtete Harmonielehre, auĂerdem Formenlehre bzw. Formenanalyse, Klavier-Kammermusik und Akkompagnieren, Transponieren und Modulieren. Als die Akademie die Verleihung des Professortitels beantragte, der ihm 1915 verliehen wurde, argumentierte sie nach AufzĂ€hlung der von ihm unterrichteten FĂ€cher:
âDr. Stöhr hat sich somit als ein in zahlreichen Disziplinen Ă€uĂerst verwendbares Mitglied des Lehrkörpers erwiesen, der seinem Lehrberuf mit ganzer Seele sich widmet. Er hat sich ĂŒberdies als schaffender KĂŒnstler durch eine groĂe Reihe von Orchester-[,] Chor- und Kammermusikwerken einen ausgezeichneten Ruf im In- und Auslande erworben. Auf musiktheoretischem Gebiete hat sich Dr. Stöhr durch Veröffentlichung sehr brauchbarer LehrbĂŒcher fĂŒr Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre verdient gemacht. â
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits sein âPraktischer Leitfaden der Harmonielehreâ (1909), âMusikalische Formenlehreâ (1911) und âPraktischer Leitfaden des Kontrapunktesâ (1911) erschienen. Als er 1926 den Titel Regierungsrat erhielt, waren sowohl weitere Publikationen (âPraktische Modulationslehreâ 1915 und âĂber die Grundlagen musikalischer Wirkungenâ 1925) als auch mehrere Neuauflagen seiner frĂŒheren Schriften herausgegeben worden. Seine Kompositionen â vor allem Lieder, Chor-, Kammermusik- und Orchesterwerke â wurden von renommierten Musikverlagen herausgegeben.
Von 1924 bis 1931 war Stöhr auch Dozent fĂŒr Musiktheorie an der zu dieser Zeit parallel zur Akademie gefĂŒhrten Fachhochschule fĂŒr Musik und darstellende Kunst. Neben seiner Lehrverpflichtung hielt er zusĂ€tzlich an der Akademie angebotene, der Ăffentlichkeit zugĂ€ngliche Weiterbildungskurse, war an der Schule fĂŒr Rhythmus, Musik und Körperbildung Hellerau in Laxenburg tĂ€tig, hielt VortrĂ€ge im Rundfunk und unterrichtete privat sowie ab 1935 im Rahmen des American Peopleâs College, einem Sommerprogramm fĂŒr US-amerikanische Studierende in Ătz in Tirol.
Neben seinem kompositorischen und pĂ€dagogischen Wirken bekleidete Stöhr mehrere Funktionen im österreichischen Musikleben, unter anderem war er VizeprĂ€sident des Wiener TonkĂŒnstler-Vereins und zweiter PrĂ€sident des Ăsterreichischen MusikpĂ€dagogischen Reichsverbandes.
Wenige Tage nach dem âAnschlussâ wurde Stöhr vom kommissarischen Leiter der Akademie, Alfred Orel, beurlaubt bzw. in der Folge âersucht [âŠ] ein Urlaubsansuchen einzubringenâ. Er sollte in den Ruhestand versetzt werden, jedoch wurde Ende Juni 1939 entschieden, dass er âinfolge seiner [inzwischen erfolgten] Auswanderung [âŠ] alle aus dem DienstverhĂ€ltnis fliessenden Befugnisse, Rechte u. AnsprĂŒche fĂŒr sich und seine Angehörigenâ verloren hĂ€tte.
Dank der BemĂŒhungen einer ehemaligen SchĂŒlerin aus den USA, die sich bei der GrĂŒnderin des Curtis Institute of Music, Mary Louise Curtis Bok, fĂŒr ihn einsetzte, erhielt Stöhr im JĂ€nner 1939 ein Vertragsangebot von Curtis: Damit gelang es ihm, ein Visum fĂŒr die Ausreise in die USA zu bekommen. Am 23. Februar 1939 ging Stöhr in Bremerhaven an Bord der S. S. Hamburg und erreichte am 4. MĂ€rz 1939 das US-amerikanische Exil. Sein Sohn Richard hatte bereits 1938 bei Freunden in Schweden (Stockholm) in Sicherheit gebracht werden können, seine Tochter Hedi fand im Juni 1939 mit einem Kindertransport in GroĂbritannien (London) Zuflucht, seine nicht von Verfolgung bedrohte Frau blieb in Wien. Wie es seinen Kindern aus erster Ehe in der Zeit des Nationalsozialismus erging, ist nicht bekannt. Stöhrs Schwester Hedwig KĂ€mpf wurde 1941 in das Ghetto von Modliborzyce (POL) deportiert und hat die Shoah nicht ĂŒberlebt.
Im MĂ€rz 1939 nahm Stöhr seine UnterrichtstĂ€tigkeit am Curtis Institute in Pennsylvania (Philadelphia) auf, wo u.a. Leonard Bernstein bei ihm studierte. Als 1941 seine Stelle eingespart werden musste, fand er â abermals durch Vermittlung einer ehemaligen SchĂŒlerin â einen Posten am St. Michaelâs College in Vermont (Winooski Park, jetzt: Colchester). Hier unterrichtete er Deutsch und Musik, wobei das zweite Fach, trotz Stöhrs Bezeichnung als âHead of the Music Departmentâ, eine untergeordnete Rolle spielte.
Im September 1946 kam als erste der Familie Tochter Hedi aus London zu ihm in die USA, im MĂ€rz 1947 folgte Ehefrau Mitzi, die gegen Ende des Krieges in Wien nur knapp einen Bombenangriff ĂŒberlebt hatte, und im Dezember 1947 Sohn Richard.
1950 ging Stöhr in Pension, konnte aber weiterhin seinen am College zur VerfĂŒgung gestellten Wohnraum nutzen, seine Ehefrau lebte in einem zwei Jahre zuvor gekauften Haus in der NĂ€he des Campus. Zu Beginn der 1960er-Jahre ĂŒbersiedelten sie gemeinsam in ein Altersheim. Vom österreichischen Staat erhielt Stöhr eine Einmalzahlung und ab Mitte der 1950er-Jahre eine Alterspension. Er kehrte nie mehr nach Ăsterreich zurĂŒck.
Richard Stöhr (geb. Stern) starb am 11. Dezember 1967 in Montpellier (Vermont), USA.
2003 wurde an seinem frĂŒheren Wohnhaus in der Karolinengasse 14 eine von der Bezirksvertretung gestiftete Gedenktafel angebracht. In Zusammenarbeit mit dem Radiosender Ă1 veranstaltete der Verein exil.arte 2014 ein im Rundfunk ĂŒbertragenes GesprĂ€chskonzert. Aus Anlass des 50. Todestags Stöhrs gestaltete das Archiv der mdw â UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien 2017 eine Ausstellung ĂŒber ihn, die in einer Publikation dokumentiert wurde, und veranstaltete ein Konzert mit Werken Stöhrs. Im Juni 2024 wurde mit einem Konzert in der Ăsterreichischen Gesellschaft fĂŒr Musik seines 150. Geburtstags gedacht.
Seit 2015 wird mit der u.a. von seinem Enkel Daniel Stohr betriebenen Website richardstoehr.com dazu beigetragen, das Andenken an Richard Stöhr zu bewahren.
Quellen / Literatur:
mdw-Archiv: 203/Pr/1914; 866/1938 PU; 1843/1938 Min; 106/Res/1938; 183/Res/1939; 402/Res/1939.
Lynne Heller, The Composer & Teacher Richard Stöhr. âI am a Musician now, earnestly and free from Regretâ. Der Komponist & PĂ€dagoge Richard Stöhr. âNun bin ich Musiker mit Ernst und ohne Reueâ. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung an der mdw â UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien, 2017.
Hans Sittner, Richard Stöhr. Mensch â Musiker â Lehrer, Wien â MĂŒnchen 1965, insbes. S. 19 u. 49.
familysearch.org: Ăsterreich, Niederösterreich, Wien â Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde.
data.matricula-online.eu: Rk. Erzdiözese Wien, Pfarre Maria Treu, Taufbuch Bd. 74, fol. 10; Ev. Kirche A.B., Pfarre Wien-Innere Stadt (Lutherische Stadtkirche), Trauungsbuch Bd. 28, Nr. 81 und Trauungsbuch Bd. 48, fol. 85.
mgg-online.com: Ludwig Holtmeier, Artikel âStöhr, Richardâ.
anno.onb.ac.at: Neues Wiener Journal, 01.08.1926, S. 21.
ancestry.com: Vermont, U.S., Death Records; Vermont, U.S., State and Federal Naturalization Records; New York, U.S. Arriving Passenger and Crew Lists.
genteam.at: Index der jĂŒdischen Matriken Wien und Niederösterreich.
doew.at: Personendatenbank.
geschichtewiki.wien.gv.at: Gedenktafel Richard Stöhr.
oe1.orf.at: Richard Stöhr â Chronist, Lehrer, Komponist (11.12.2014, RadiocafĂ©).
mdw.ac.at: Lynne Heller, âNun bin ich Musiker mit Ernst und ohne Reueâ, in: mdw-webmagazin. richardstoehr.com.
Empfohlene Zitierweise:
Erwin Strouhal: Richard Stöhr, in: Gedenkbuch fĂŒr die im Nationalsozialismus verfolgten Angehörigen der mdw â UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien (https://gedenkbuch.mdw.ac.at/gedenkbuch/persons//beda9877-65c9-4c2b-b786-24d04078587e/)
Letzte Ănderung: 14.11.2024